85. PAUL LAINE – Stick It In Your Ear

1990 erschien das Album Stick It In Your Ear des blutjungen Sängers Paul Laine. Aufmerksam wurde ich durch eine positive Besprechung im Rock Hard. Auffällig ist das in knalligen Farben gehaltene Cover mit dem Discman im Kopf, das den Albumtitel perfekt umsetzt. Scheinbar besitzt man im Hause Laine auch eine ordentliche Portion Humor, denn der Aufdruck auf dem Backcover „WARNING: Do not attempt to insert compact disc into your head without prober cybernetic implant. Implant not included“ ist mehr als schräg.

Heute kennt man Paul Laine am ehesten durch seine Zusammenarbeit mit DANGER DANGER, bei denen er mehrere Jahre Sänger Ted Poley ersetzte. Damals war der Kanadier jedoch ein komplett unbeschriebenes Blatt.

An den Reglern saß Bruce Fairbairn, der unter anderem auch LOVERBOY, HONEYMOON SUITE oder BON JOVI produzierte, womit die Zielrichtung bereits vorgegeben ist. Besonders BON JOVI Mitte der 80er dürfte ein großes Vorbild für Paul Laine gewesen sein.

Gerade beim Intro des Openers ‚One Step Over The Line‘ frage ich mich, ob man da nicht versehentlich die Spuren von ‚Lay Your Hands On Me‘ genommen hat. Die Ähnlichkeiten sind schon gewaltig. Auch im weiteren Verlauf hätte das Lied jederzeit auf Slippery When Wet oder New Jersey bestehen können. Nach dem langen Intro kommt ein knackiges Gitarrenriff, während der Gesang eine Spur rotziger als beim großen Vorbild ausfällt. Der Refrain ist dann absolut stadiontauglich und animiert zum Mitgröhlen. Am langen Instrumentalteil scheiden sich die Geister. Für die einen mag das ein atmosphärisches Zwischenspiel sein, für die anderen ist das doch eher sinnbefreites Gedudel, das dem Lied dann eine Gesamtspielzeit von über 7 Minuten beschert. Mit ‚We Are The Young‘ wird gleich der nächste Ohrwurm rausgehauen, dessen Chorus weder BON JOVI noch LOVERBOY zu ihren Glanzzeiten hätten toppen können. Wenn dann noch die Geschwindigkeit vor dem Gitarrensolo angezogen wird, ist das Lied der helle Wahnsinn und endet in einem wahren Drumgewitter. Okay, mehr Hardrock als AOR, aber das ist wirklich egal. AOR gibt es dafür bei ‚Dorianna‘. Süße Keyboard-Teppiche bis zum Abwinken, Paul singt wesentlich weicher und der Chorus ist in seiner Eingängigkeit nicht von dieser Welt. Warum wurde das in den USA kein Top-10 Hit? An der Musik kann es nicht gelegen haben. Die namensgebende Dame muss zumindest großen Eindruck auf den Komponisten gemacht haben, dass er ihr einen derartigen Hit gewidmet hat. ‚Is It Love‘ ist die Powerballade, mit der man in einer gerechteren Welt die Charts hätte knacken müssen, um hinterher lebenslang im Geld schwimmen zu können. Danach gibt es mit ‚Heart Of America‘ wieder eine BON JOVI-artige Hymne mit viel Keyboards und großem Refrain. ‚Main Attraction‘ ist hingegen eher ein simpler Stampfer. Vielleicht merkt man da auch ein bisschen, dass der Produzent im Vorfeld bei AC/DCs The Razors Edge seine Finger im Spiel hatte.

Wenn man schon beim Einfluss des Produzenten ist, könnte ich mir vorstellen, dass Bruce der Meinung war, dass noch ein bisschen Abwechslung auf die Platte muss. Irgendwas, das Richtung verrauchter Bar, Blues, Mundharmonika usw. klingt. Hat doch mit ‚Emotional‘ auf LOVERBOYs Get Lucky bereits prima funktioniert. Meiner Meinung nach war das auf der Platte der absolute Rohrkrepierer und auch ‚Doin‘ Time‘ ist für mich ein völlig störender Skip-Kandidat, der im Vergleich zum Rest der Platte qualitativ komplett abfällt. Auch mit dem ruhig gehaltenen ‘I’ll Be There‘ tue ich mich ein bisschen schwer, denn das klingt dermaßen nach U2, was auch nicht so richtig zum Rest der Scheibe passen will. Da hat man wohl im Vorfeld etwas zu oft ‚I Still Haven’t Found What I’m Looking For‘ gehört. Dafür haut man mit dem abschließenden ‚Break Down The Barricades‘ die nächste perfekte Hymne für die sommerliche Fahrt mit dem Cabrio raus. Auch das hätte BON JOVI nicht besser hinbekommen. Wie kann man nur ein derartiges Gespür für eingängige Melodien haben?

Die Bonustracks sind übrigens auch sehr hörenswert. ‚My Hometown‘ ist ein gemütlicher Rocker mit Akustikgitarren, ‚Only Your Heart‘ hat eine ziemliche Schlagseite Richtung HONEYMOON SUITE, ‚Keep On Running‘ erinnert mit seiner dezenten Country-Ausrichtung etwas an BON JOVIS ‚Dead Or Alive‘ und ‚After The Rain‘ ist dann die Herz-Schmerz-Ballade, die bisher noch gefehlt hat.

„Von einem der auszog, die Welt zu erobern.“ Das könnte das Motto sein, unter dem Paul Laine damals seine ersten Schritte im Musikgeschäft wagte. Leider kam es ganz anders, denn der kommerzielle Erfolg war mehr als bescheiden. An den Liedern kann es nicht gelegen haben und auch das Thema Grunge hatte zu dem Zeitpunkt derartige Musik noch nicht verdrängt. War es eine unfähige Plattenfirma oder einfach nur Pech? Ich weiß es zumindest nicht.

Ob natürlich die Scheibe überhaupt in unserer Liste ihren Platz verdient hat, bin ich mir auch nicht so ganz sicher, denn das ist im Endeffekt deutlich mehr Hardrock als AOR. Wer auf Slippery When Wet oder New Jersey von BON JOVI und hymnenhaften Stadionrock mit Mitsing-Garantie steht, ist hier auf jeden Fall richtig.