Gespannt war ich schon auf das neue Album der deutschen AOR-Hoffnung VIOLET, die mit Ihrem Debüt Illusions vor 2 Jahren jetzt keinen Genre-Klassiker veröffentlichten. Ein kleines Ausrufezeichen konnten die Stuttgarter schon setzen, immerhin scheint diese Art des Musikmachens zumindest in Deutschland beinahe ausgestorben zu sein. Bemerkenswert ist noch dazu, dass sämtliche Bandmitglieder unter 25 Jahre alt sind.
Im ganz hohen Norden ist die Sachlage bekanntermaßen etwas anders, allerdings müssen sich die zahlreichen skandinavischen Bands immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, nicht eigenständig genug zu sein und in der Tat kann man viele der schwedischen Melodicrockbands nach ein paar Takten ihrem Heimatland zuordnen – was aber natürlich nichts über die Qualität der Songs aussagt.
VIOLET gehen aber auf Mysteria einen anderen Weg und klingen – wie auch schon auf dem Vorgänger – so ganz und gar nicht nach dem Melodicrock, den wir üblicherweise serviert bekommen. Ich hatte in meinem Review zu Illusions bereits angemerkt, dass Sängerin Jamie Beckham nicht über eine übermäßig kraftvolle Rockstimme verfügt, sondern eher den damals angesagten Popsängerinnen wie Kim Wilde, Malin Berggren, Markita oder auch Samantha Fox nähersteht. Insofern wird auch auf Mysteria nicht die ganz harte Rockkarte gezogen, stattdessen ist sich die Band sehr genau bewusst, welche Art von Musik zum Gesang der 21-jährigen Frontfrau passt.
Einen Vorgeschmack, wie VIOLET 2024 klingen, gab es ja bereits von einigen vorab veröffentlichten Videos, aber ‚Angelina‘ (hätte stilistisch auch auf dem Debüt stehen können) und ‚Bad Dream‘ (etwas hardrockiger) waren einfach zu unterschiedlich, um sich ein Bild zu machen, deshalb war ich extrem neugierig, wie nun das ganze Album klingen mag.
Der Opener ‚Sex in Harmony‘ gibt die Marschrichtung vor. Auch wenn der Song sehr nach Synthypoprock aus den 80ern klingt, so haben wir es aber mit einer erstklassigen Nummer zu tun und Jamie Beckham scheint mit ihrem beinahe lasziven Gesang erwachsen geworden zu sein.
‚Bad Dream‘, die zweite Videoauskopplung von Mysteria war für mich ganz klar die stärkste Nummer, welche man schon vor Release hören (und sehen) durfte. Dass der Song letztlich der härteste Track des Albums ist, hätte ich mir bei Erscheinen jedoch auch nicht gedacht. ‚Bad Dream‘ ist aufgrund seiner ungewöhnlichen Songstruktur und überaus effektiv eingesetzten Keyboards (besonders beim Refrain) eine wahre Perle.
Das nachfolgende, ebenfalls bereits vorab veröffentlichte ‚Angelina (Talk) To Me‘ ist der große Ohrwurm des Albums. Die Nummer verbreitet mit seinen immensen Keyboardmelodien und dem Saxofon-Solo von Ben Kruska einfach gute Laune.
Stilistisch bleibt Im Hause VIOLET also alles beim Alten, jedoch die Vehemenz, mit der abermals Pomp/Bombast-Rockbands wie STARSHIP oder TOTO gehuldigt werden, ist noch besser und effektiver umgesetzt als auf Illusions – auch weil man hin- und wieder die Komfortzone verlässt, wie z.B. bei ‚That Night‘, wo sogar ASIA und YES (aus den 80ern) von der Ferne grüßen.
Mit ‚Only You‘ treiben es VIOLET dann auf die Spitze: Eine luftige Power-Popnummer im Toto-Gewand und einem der besten Saxofon-Soli der letzten Jahre, welche sich bei mir heimlich zum Highlight des Albums gemausert hat.
Nach der obligatorischen, etwas unspektakulären Ballade ‚Arms Around‘ und dem erfrischenden ‚I Don’t Want To Fall In Love‘ geht es mit dem Titelsong wieder etwas rockiger und härter zur Sache. ‚Eighteen In Love‘ lief mir am Anfang so gar nicht rein, mittlerweile habe ich allerdings meinen Frieden mit der Nummer geschlossen.
Das gesangliche Highlight stellt aber für mich die Abschlussballade ‚If I Had You‘ dar. Jamie Beckham singt hier so gut wie nie zuvor und man hat das Gefühl, dass in der Stimme doch einiges mehr steckt, als sie momentan preisgeben möchte.
86% für ein Album, das Anfangs mit seinem Pop-Appeal etwas seltsam anmutet, mit der Zeit aber extrem wächst. Gefühlt befinden sich VIOLET mit diesem Album in einer Nische, welche momentan in Deutschland keine Riesenkarriere verspricht. Andererseits liegen die CD-/Vinylverkäufe über allen Erwartungen, was nicht nur Hoffnung auf einen kommerziellen Erfolg der Band macht, sondern auch, dass VIOLET der Dosenöffner für die derzeit schlafende, heimische Melodicrockszene sein könnte.