ATLANTIS DRIVE – s/t

Label
Pride & Joy
Erscheinungsdatum
14.06.2024
Tracklist
1. Way Back When
2. Medusa Smile
3. Living For The Moment
4. Brand New Start
5. United
6. Curtain Falls
7. Faith
8. Time
9. Farewell To A Friend
10. Heroes
Line-Up
Marc Boals – Vocals
Markus Pfeffer – Gitarre
Joris Guilbaud – Keyboards
Markus Kullmann - Drums
Unsere Wertung
75
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75

Ein Amerikaner, ein Franzose und zwei Deutsche haben eine CD eingespielt. Was zuerst wie der Beginn eines schlechten Witzes anmutet, sorgt auf den zweiten Blick unter Rockfans für Unbehagen und entnervt gerollte Augen. Zu oft schon haben sich solcherlei Veröffentlichungen lediglich als kurzlebige Projekte entpuppt, die von einem Label am Reißbrett entworfen und für die Songs von hauseigenen Songschreibern im Angestelltenverhältnis aus der (untersten?) Schublade geholt wurden. Oftmals werden die Songs in verschiedenen Studios und in tausende Meilen voneinander entfernt liegenden Heimatorten der Musiker eingespielt und die Bandfotos mittels Grafiksoftware zusammengekleistert, weil sich die Musiker in Wirklichkeit nie begegnet sind. Entsprechend konstruiert und seelenlos wirken solche Produktionen oftmals.

Im Falle von ATLANTIC DRIVE kann jedoch teilweise Entwarnung gegeben werden, denn laut Presseinfo ist dieses Projekt das geistige Kind von Gitarrist Markus Pfeffer (BARNABAS SKY, LAZARUS DREAM), der auch für das Songwriting verantwortlich war. Der erwähnte Amerikaner ist kein geringerer als der derzeit wieder sehr beschäftigte Sänger Marc Boals (MALMSTEEN, RING OF FIRE, BILLIONAIRS BOYS CLUB), der auch die Texte verfasst hat. Die Keyboards bedient der Franzose Joris Guilbaud (DEVOID, HEART LINE) und die Schießbude verprügelt der deutsche Drummer Markus Kullmann (GLENN HUGHES, SINNER, VOODOO CIRCLE). Mitnichten somit ein reines Labelprojekt, sondern das Ergebnis einer kreativen Arbeit der beteiligten Musiker. Angesichts der vielen Engagements der beteiligten Musiker bestehen jedoch berechtigte Zweifel, ob es die Songs auch mal auf eine Bühne schaffen und von einer echten Band performt werden.  Time will tell!

Nun aber zum selbstbetitelten Album: der Opener `Way Back When´ wird mit fetten Keyboards eingeleitet und entpuppt sich als flotter Rocker mit AOR-typischem und somit schnell ins Ohr gehenden Refrain. Die Instrumentalfraktion hat definitiv was auf der Pfanne, die Melodien zünden und auch am ausgewogenen Sound gibt es für mich nichts zu beanstanden. `Medusa Smile´ schraubt das Tempo etwas zurück und lässt mit einer Länge von knapp über fünf Minuten ausreichend Raum für leicht progressive Spielereien, wodurch der Song allerdings auch ein paar Durchgänge braucht, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen wie der Opener. `Living For The Moment´ ist bestes AOR-Futter mit prägnantem Keyboard, bevor mit `Brand New Start´ die erste Ballade serviert wird, die mich ein ums andere Mal an die ruhigeren Momente vom MR. BIG erinnert. Marc Boals klingt hier teilweise wie der junge Eric Martin, was angesichts seiner inzwischen 65 Lenze wirklich bemerkenswert ist.

`United´ ist ein eher unauffälliger Rocksong mit gefälliger Melodie, bevor mit `Curtain Falls´ im ¾ – Takt gewalzert wird. Eigentlich ein toller Song, dem allerdings ein mir persönlich zu hektisches Drumming – wie schon bei `Medusa Smile´ – ein wenig der Fluss genommen wird. `Faith´ kommt anschließend etwas straighter daher und hätte auch auf dem Album Intuition von TNT eine gute Figur abgegeben. Markus Pfeffer hat offensichtlich ein Faible für zweistimmige Gitarrensoli, die fast das gesamte Album durchziehen. `Time´ wird durch eine tolle Basslinie eingeleitet, die etwas bei `Come As You Are´ von NIRVANA klaut, und auch die ab und an durch den Phaser gezogenen Gitarren heben den Song deutlich heraus – Klasse!

`Farewell To A Friend´ ist die dem Titel nach zu erwartende zweite Ballade, die erneut im ¾-Takt vor sich hinplätschert und mit fünfeinhalb Minuten etwas zu lang geraten ist. Auf sage und schreibe achteinhalb Minuten schrauben ATLANTIS DRIVE ihren Closer `Heroes´, der somit das Magnum Opus ihres Albums darstellt. Insbesondere Gitarrist Markus Pfeffer tobt sich hier noch einmal mit mehreren tollen Soli ordentlich aus, was allerdings den ohnehin nicht besonders eingängigen Refrain zum Statisten degradiert – da wäre noch ein bisschen mehr drin gewesen.

Fazit: ein gutes Album mit einigen wirklich gelungenen Melodien und wenigen Schönheitsfehlern, dem ich in Summe 75% geben kann. Neben einem etwas weniger hektischen Drumming hätte ich mir auch einen etwas variableren Marc Boals gewünscht, der stets mit ordentlich Druck in der Stimme singt, was sich über ein komplettes Album jedoch leicht abnutzt. Seine Stimmfarbe mag ich sehr, und ich würde ihn gerne auch einmal mit entspannter Gesangstechnik hören.

Wer AOR der etwas wuchtigeren Gangart bevorzugt, sollte unbedingt mal bei ATLANTIS DRIVE reinschnuppern. Ich empfehle dafür vor allem den Opener `Way Back When´, `Living For The Moment´ und `Time´, die sich durchaus in der ein oder anderen Jahresplaylist wiederfinden lassen dürften.