Tag 1
Relativ kurzfristig erfuhr ich, dass ich meinen Geburtstag nicht mit meiner Frau, sondern mit meiner zweiten großen Liebe TED POLEY auf dem Wildfest in Belgien verbringen soll – hier nochmal vielen Dank an Anita für das wirklich tolle Geburtstagsgeschenk. Am Flughafen in Brüssel angekommen, merkte ich, dass die geplante Zugfahrt vom Airport zum Festivalort Geraardsbergen doch eine kleine Herausforderung darstellte. Weder am Bahnsteig noch an den Zügen selbst findet man einen Hinweis, wo diese hinfahren. Ob ich bei meiner Auswahl der vier Gleise einfach nur Glück hatte oder ob alle Züge vom Flughafen Richtung Innenstadt fahren, habe ich nicht mehr recherchiert. Jedenfalls bin ich dann pünktlich in meinem Domizil, wo mich meine Mitbewohner Susa (Rock Chicks Radio) und Chris (Melodic Rock Palace) herzlich empfangen haben, angekommen.
Ein absolutes Muss, ja schon fast ein Ritual bei einem Rockfestival ist für mich das Einläuten des Events vor Ort mit einem Jacky Cola. „We do not serve longdrinks“ war der lapidare Kommentar bei meiner Bestellung, insofern musste ich mich als Nicht-Biertrinker die nächsten 2 Tage mit Rose-Wein über Wasser halten – stilecht in einem edlen, schmalen Sektgläschen.
Die Österreicher MÄDHOUSE hätte ich wirklich sehr gerne gesehen – leider mussten diese absagen. Dieser Umstand gab den Lokalmatadoren von CARDINAL die Gelegenheit, das Wildfest 2023 musikalisch zu eröffnen. Optisch relativ unspektakulär mit Jeans und weißen Shirts konnten die Belgier leider auch musikalisch – obwohl trotz modernen Ansätzen durchaus zum Wildfest passend – jetzt kein Feuerwerk abfackeln. Solide war das Ganze, einen ersten Glanzpunkt konnte der Auftritt jedoch nicht setzen.
OSUKARU hievten anschließend mit ihrem Gig das Level mindestens um eine Stufe nach oben. Das letzte Album Starbound läuft bei mir immer noch regelmäßig und war für mich auch eines der besten Hardrockalben 2021. Und live konnten die Göteborger dieses Mal auch überzeugen: Sänger Frederik Werner war deutlich besser bei Stimme als noch vor ein paar Wochen beim Swedish Easter Festival in Hamburg und Gitarrist/Bandleader Oz lässt als Fels in der Brandung eh nichts anbrennen. Die Publikumsreaktionen waren für die frühe Auftrittszeit schon sehr erstaunlich, was nicht nur an dem Megahit ‚Tainted Heart‘ lag – auch ‚Shut It Out‘ und ‚Starbound‘ knallten mehr als ordentlich aus den Lautsprechern. Trotzdem hatte man das Gefühl, dass die Band noch nicht an ihrem Limit ist und in Zukunft eine Schippe drauflegen könnte.
Dieses letzte Etwas schnappte sich dann CHEZ KANE und legte – wie schon im April in Lichtenfels – einen Bilderbuchauftritt hin. Egal, welchen Song der beiden bislang erschienenen Scheiben die Waliserin ins Publikum feuerte, es gab kein Halten mehr und die etwa 400 Zuschauer dankten es ihr mit frenetischem Applaus. Die Sängerin selbst ist immer in Bewegung und „on Fire“, dabei klingt Chez‘ Stimme meiner Meinung nach live druckvoller und besser als auf den Alben. Ja, wenn man das Haar in der Suppe suchen will, dann sind es die zahlreichen Keyboardsounds, welche leider vom Band kommen. Wieder ein unglaublich überzeugender Auftritt.
Ich bin mir sicher, dass es keine Band gibt, welche in den letzten Jahren öfter in meiner heimischen Anlage oder im Auto liefen als
DEGREED. Die Alben sind durch die Bank anspruchsvoll, melodisch und bleiben auch beim zigsten Durchlauf spannend. Der Auftritt der Stockholmer war dann für mich leider eine kleine Enttäuschung. Anders als letztes Jahr beim Indoor Summer Festival sprang der Funke nur sehr langsam über und ich kann nicht mal sagen, an was es lag. Die Songauswahl war top und Robert Eriksson war auch wieder sehr gut bei Stimme. Vielleicht war meine Erwartungshaltung auch etwas zu hoch, weil andere Zuschauer den Auftritt sehr gelungen fanden.
Ich hatte CONFESS aus (woher sonst?) Stockholm noch nie live gesehen, finde die Alben Jail (2014), Haunters (2017) und Burn `Em All (2020) aber unglaublich gut. Stilistisch und qualitativ dicht bei HARDCORE SUPERSTAR und alten CRASHDIET, allerdings mit einem stimmlich variableren Sänger, ist es schwer zu verstehen, warum die Band keinen höheren Bekanntheitsgrad hat. Live kommt das Material der Schweden – und das ist unfassbar – beinahe noch zwingender rüber als auf Konserve. Sänger John Elliot hat die Bühne und die Fans von Anfang an im Griff. Generell passiert on Stage so viel, dass man gar nicht weiß, wo man zuerst hinsehen soll. Genau diese Bühnenpräsenz und Spielfreude hat man bei den letzten Liveauftritten von z.B. CRASHDIET etwas vermisst. Egal ob beim Megaohrwurm ‚Haunting You‘ oder dem schnellen ‚Pay Before I Go‘ – die Band überzeugte auf ganzer Linie. Im Nachhinein macht sogar die Coverversion von TINA TURNER‘s ‚What’s Love Got To Do With It‘ Sinn.
Im Vorfeld hatte TED POLEY wegen der dubiosen Konzertabsage in Lichtenfels einiges an Kredit bei den Fans verspielt. Diesen Fauxpas – so viel sei vorweggenommen – machte der
ehemalige (?) DANGER DANGER-Sänger mit diesem Auftritt doppelt und dreifach wieder wett. Überraschenderweise startet TED POLEY (mit den Jungs von DEGREED als Begleitband) mit ‚New World‘ vom Album Modern Art, was für einige Fragezeichen im Publikum sorgte. Auch das nachfolgende ‚Horny SOB‘ gehört jetzt mit Sicherheit nicht zu den bekanntesten Songs auf Screw It!. Aber man hatte das Gefühl, dass es genau 2 Songs braucht, damit der US-Amerikaner auf Betriebstemperatur kommt. Danach ging es Schlag auf Schlag: ‚Monkey Business‘, ‚Shot O Love‘, ‚Feels Like Love‘ – ja, da bewegten sich auch die Hintern der hüftsteifersten Besucher. Dass der US-Amerikaner bereits 61 Jahre alt ist, mag man aufgrund seiner Performance nicht glauben. Ständig grinsend unterwegs, ist seine Gesangsleistung ebenfalls grandios – auch der inzwischen schon zum Standard gehörende Ausflug ins Publikum macht die Show zu einem einzigartigen Erlebnis. Als nach ‘I Still Think About You’ und ‘Naughty Naughty’ der Vorhang fällt ist man einerseits glücklich eine der besten Shows der letzten Jahre gesehen zu haben – anderseits hat Mr. Poley im Vorfeld spekuliert in Zukunft keine Live-Konzerte mehr spielen zu wollen, was ich aber aufgrund seiner ausgezeichneten Form ehrlich gesagt nicht glaube.
Die Belgier von WILDHEART hatten das „Vergnügen“ anschließend auf die Bühne zu dürfen. Aufgrund der Tatsache, dass sie bereits einen Gig an diesem Tag woanders hatten, war der Slot nach dem Headliner die einzige Wahl. Das Publikum feierte immer noch zahlreich – bei mir zollte der lange Tag nun jedoch seinen Tribut, so dass ich nur noch den Anfang der Show aktiv miterlebte.
Tag 2
Nach dem wirklich überragenden, aber auch anstrengenden Tag 1, stand Tag 2 dann anfangs eher im Zeichen von sinnigen und unsinnigen Gesprächen. Das hatte zur Folge, dass ich NOTÖRIOUS, JOLLY JOKER und SOUTH OF SALEM nur mit einem Ohr und einem Auge verfolgen konnte.
Die Italiener HELL IN THE CLUB waren dann auch die erste Band am Samstag, die das Publikum vollends mitreißen konnte. Der Hardrock mit leichter Glam/Sleaze-Schlagseite war genau das Richtige, um die Fans wieder in den Partymodus des Vortags zu bringen. Ich hatte ganz vergessen, wie viele Hits das Quartett auf Ihren bisherigen 5 Alben verpackt hatten. Hier stimmte alles von der Songauswahl bis zur unbändigen Energie auf der Bühne. Sogar die Coverversion von ALICE COOPERs ‚He’s Back‘ (enthalten auf der kürzlich erschienenen Kamikaze-EP) konnte vollends überzeugen.
Für JUNKYARD DRIVE war es danach nicht einfach dieses Energielevel zu halten. Im Laufe des Sets hatten die Dänen jedoch das Publikum voll im Griff und Sänger Kristian Johansen avisierte zum vielleicht technisch besten Sänger dieser zwei Tage. Musikalisch gab es einen Mix aus allen bislang erschienen 3 Alben, wobei der Schwerpunkt auf dem letztjährig erschienen Longplayer Electric Love lag, welches für mich eines der besten Scheiben im Jahr 2022 war. Höhepunkt war dann auch der Rausschmeisser ‚Mr. Rock’N Roll‘ – ganz klar der beste Song von JUNKYARD DRIVE.
Bei BLACKRAIN habe ich eine Essenspause genommen – laut diverser Aussagen soll der Auftritt der Franzosen aber ziemlich überzeugend gewesen sein.
Mit großer Neugier erwartet wurde danach der Auftritt von ART NATION. Sänger Alexander Strandell ist ja mittlerweile in vielen Projekten involviert (CROWNE, NITRATE). Live konnte man den Frontmann außerhalb seiner Heimat jedoch bislang kaum sehen, insofern lag knisternde Spannung in der Luft, bevor ART NATION die Bühne betrat. Und obwohl der Auftritt bis kurz vor Schluss wegen einer Erkältung des Sängers auf der Kippe stand, wurde das Ganze zu einem eindrucksvollen Triumphzug. Vom ersten Song ‚Don’t Wait For Salvation‘ bis zum finalen Überhit ‚Need You To Understand‘ blieb den Besuchern kaum Zeit zum Verschnaufen. Auch wurden die beiden überragenden neuen Songs ‚Brutal & Beautiful‘ und ‚Echo‘ vom kommenden Album Inception eingebaut. Highlight war wohl aber ‚Ghost Town‘. Hier holte die Band ihren vielleicht jüngsten Fan auf die Bühne und das junge Mädchen sang den Hit fehlerfrei (und nicht nur den Refrain) zusammen mit Alexander Strandell – sehr emotional.
Nach diesem megastarken Auftritt musste man gespannt sein, ob ECLIPSE dieses Niveau musikalisch und stimmungstechnisch halten konnten. Und ja, sie schafften das mühelos. Den Anfang machten ‚Roses On Your Grave‘, ‚Saturday Night‘ und ‚Run For Cover‘ vom immer noch aktuellen Studioalbum Wired bevor man mit ‚The Storm‘ fast ein Jahrzehnt zurücksprang – leider blieb der Song die einzige Kostprobe vom (für mich) besten ECLIPSE-Album Armageddonize. Der Gesang von Erik Mårtensson war perfekt, die Bühnenshow war perfekt, die Spielfreude war perfekt – und genau das war das einzige Problem des Gigs: Wenn man ECLIPSE sehr oft in den letzten Jahren gesehen hat, dann fehlen einfach die Überraschungen. Bei dem riesigen Backkatalog könnte man den zahlreichen Fans der Schweden durchaus mal ein paar alte Songs um die Ohren hauen. Das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau und die Stimmung war dann bei ‚Viva La Victoria‘ tatsächlich am Siedepunkt.
Das wars dann auch. Glücklich und erschöpft fuhr uns Chris (der es an Tag 2 tatsächlich schaffte fast ganz ohne Alkohol auszukommen) zu unserem Ferienhaus, von wo ich am nächsten Tag, dann die Heimreise nach Bayern antrat.
Fazit: Insgesamt ein sehr gelungenes Festival mit tollen, teilweise herausragenden Bands. Meine Highlights waren neben TED POLEY: CHEZ KANE, CONFESS, HELL IN THE CLUB und ART NATION. Für den Ticketpreis von ca. 65€ für beide Tage hätten durchaus ein paar mehr Leute kommen können, als die etwa 400 Anwesenden. Das Non-Plus-Ultra für diese Art von Musik bleibt nach dem vorübergehenden Ableben des H.E.A.T-Festivals immer noch das Indoor Summer in Hamburg, welches hinsichtlich Organisation, Bands und Stimmung im direkten Vergleich noch eine Schippe drauflegt.
Zum Schluss geht mein besonderer Dank an Susa und Chris, die mich kurzfristig in ihr Ferienhaus aufnahmen. Das gipfelte in sehr interessanten und lustigen Gesprächen (nicht nur) über Musik in all seinen Schattierungen.