LOST GEMS: CHARLIE – s/t

Label
Polydor
Erscheinungsjahr
1983
Tracklist
1. It´s Inevitable
2. Tempted
3. Spend My Life With You
4. Never Too Late
5. Playing To Win
6. The Heartaches Begin
7. You´re Everything I Need
8. This Time
9. Can´t Wait ´Til Tomorrow
Line-Up
Terry Slesser (Lead Vocals)
Terry Thomas (Guitars, Backing Vocals)
John Anderson (Bass, Backing Vocals)
Robert Henrit (Drums, Persussion)
Steve Gadd (Drums)
Unsere Wertung
94
94

Bei der Recherche für dieses Album sind mir erstaunlich viele Parallelen zwischen den Bands CHARLIE und PRISM, deren 1982er Album Beat Street ich zuvor ebenfalls für unsere „Lost Gems“-Rubrik rezensiert habe (wenn Du magst, guckst Du hier: https://aor-bible.de/lost-gems-prism-beat-street/ ), aufgefallen: Gründer und treibende Kraft waren in beiden Bands Musiker, die später vor allem als Produzenten zu Weltruhm gelangten. Gitarrist und CHARLIE-Gründungsmitglied Terry Thomas hat u.a. Alben von AEROSMITH, FOREIGNER, TESLA oder BAD COMPANY soundtechnisch betreut und auch einige Credits für´s Songwriting erhalten. Auch zwischenzeitlich mitwirkende Musiker wie Drummer Nicko McBrain (später IRON MAIDEN), Drummer Robert Henrit und Gitarrist John Verity (u.a. PHOENIX, ARGENT und THE KINKS, John Verity dazu noch mit einigen Soloalben und die der nach ihm benannten Band VERITY) erreichten erst nach ihrem Engagement bei CHARLIE mit anderen Veröffentlichungen größere Aufmerksamkeit.

CHARLIE und PRISM – beide waren zunächst tief in den 70ern verwurzelt und spielten opulenten Classic-Rock, bevor sie eine deutliche musikalische Kurskorrektur vornahmen und jeweils ein Album mit klassischem Frühachtziger-AOR veröffentlichten, das für ihre Fans der ersten Stunde zu fremd klang und verpönt wurde, von vielen Anhängern der auch in diesem Webmag präferierten Musikrichtung aber heiß und innig geliebt wird. Wie PRISM´s 1982 veröffentlichtes Album Beat Street war auch das nur ein Jahr später erschienene, selbstbetitelte Album von CHARLIE kommerziell gefloppt.

Dass es beide Bands nicht einmal ins Ranking unserer TOP 250 AOR-Alben geschafft haben, mag auch damit zu tun haben, dass in der ersten Hälfte der 80er unzählige Klassiker-Alben von AOR-Topsellern wie JOURNEY, SURVIVOR, TOTO oder FOREIGNER erschienen. Für Bands aus der zweiten oder dritten Reihe somit ein denkbar ungünstiger Zeitraum, um Radio-Airplay oder sonstige Medienpräsenz und den damit verbundenen Bekanntheitsgrad zu ergattern. Neue Fans waren so kaum zu gewinnen, und die alten Fans haben sich nach dem Stilbruch enttäuscht abgewendet. Da braucht es schon ein kleines, aber feines Webmag mit „Lost Gem“-Rubrik, um auf Perlen wie Charlie oder Beat Street aufmerksam zu machen und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen ;-).

Ein im wahrsten Sinne des Wortes meilenweiter Unterschied besteht in der Herkunft, denn CHARLIE ist eine britische Rockband, die im Jahre 1971 von Terry Thomas (Gitarre, Leadgesang), Martin Smith (Gitarre, Gesang), Ray Bulloch (Bass) und Nicko McBrain (Schlagzeug) gegründet wurde. Die Rhythmusfraktion wurde jedoch bereits nach kurzer Zeit durch John Anderson (Bass, Gesang) und Steve Gadd abgelöst, der jedoch nicht identisch ist mit dem berühmten Drummer gleichen Namens. Bis zur Veröffentlichung des ersten Albums namens Fantasy Girls vergingen fast fünf Jahre. Nach einigen Umbesetzungen, in deren Verlauf die Musiker Julian Colbeck, Eugene Organ, Shep Lonsdale, John Verity, Robert Henrit und Terry Slesser bei CHARLIE spielten, und weiteren sieben Alben endete die Geschichte der Band im Jahre 1986 und dem wenig beachteten Album In Pursuit Of Romance.

Im Juni 2009 erschien mit Kitchens Of Destinction ein Comeback-Album der Band, das in der Entstehungsphase zunächst als Soloalbum von Terry Thomas geplant war und durch das spätere Mitwirken von Julian Colbeck und Martin Smith dann doch unter dem Banner CHARLIE veröffentlicht wurde. Diese Besetzung hielt auch bis zum 2015 erschienenen und bis heute letztem Album Elysium.

Nun aber zu den Songs auf Charlie, denn die sind schließlich Ursache für dieses Review. `It´s Inevitable´ ist auch gleich eine Blaupause für den Sound dieses Albums: typisch britischer AOR, der oftmals etwas melancholischer und verspielter klingt als der aus Nordamerika, und mit der samtigen Stimme von Terry Slesser veredelt, der wie ein großer Bruder von Steve Perry klingt. Dazu fette Chöre und prägnante Keyboards, die jedem Song zusätzliche Würze verleihen. Der Refrain ist jedoch noch nicht so zwingend, was auch für den nachfolgenden und etwas treibenderen Song `Tempted´ gilt. Zwei gute Songs als Album-Opener, aber zum Klassiker machen das Album erst die kommenden Großtaten (bei allem Respekt, aber das stimmt nicht: auch ‘It’s Inevitable’ und ‘Tempted’ sind Meisterwerke – Rainer):

`Spend My Life With You´ ist die dem Titel nach zu erwartende Ballade, aber eine, die sich (mit blumig duftender Seife) gewaschen hat – wenn man denn empfänglich für grandiosen Kitsch ist. CHARLIE benutzen hier alles, was die Schmalzdose hergibt: ein zaghafter Beginn, ruhige Strophen und ein explodierender Refrain, der hinsichtlich der Aussage des Songs die Katze aus dem Sack lässt – man hat förmlich vor Augen, wie die Angesprochene dem Urheber dieser Liebeserklärung anschließend tief gerührt um den Hals fällt. Also, Freunde: verschwendet keine Lebenszeit mit Rosamunde Pilcher-Filmen und hört lieber CHARLIE – trieft genauso, kommt aber deutlich schneller inne Pötte.

Das ein tolles Break enthaltende `Never Too Late´ und `Playing To Win´ nehmen anschließend wieder deutlich an Fahrt auf und bieten fette Chöre und Kniefall-Melodien, die ich persönlich seit den frühen Achtzigern nie wieder aus dem Kopf bekommen habe – warum auch, wenn´s doch so geil ist? Das mit Saxophon garnierte `The Heartaches Begin´ fällt anschließend nur geringfügig ab, bevor mit `You´re Everything I Need´ wieder tiefroter Kitsch-Alarm geläutet wird, was auch hier bereits der Titel suggeriert. Das Besondere an diesem Song ist, dass er aus zwei Teilen zu bestehen scheint, die ineinander übergehen und trotzdem prächtig harmonieren. Auch die Länge von über sieben Minuten lässt vermuten, dass hier tatsächlich zwei Songs zu einem gemacht wurden. Wie auch immer: das Ergebnis ist ein Meisterwerk großartiger AOR-Kunst, das man gehört haben sollte, wenn man auch nur entfernt etwas mit dieser Musik anfangen kann.

`This Time´ und vor allem der Rausschmeißer `Can´t Wait Til Tomorrow´ bieten dem Gourmet wieder flottere Kost und entlassen einen bestens gelaunt aus einem Album, das bei Erscheinen für den damals achtzehnjährigen Rezensenten eine Offenbarung war und bis heute auf dem Treppchen der für mich besten AOR-Alben aller Zeiten steht. Falls ich jemanden neugierig machen konnte, der nun im I-Net gierig nach einer Kaufoption sucht: das Album wurde mehrfach durch diverse Labels  neu veröffentlicht – u.a. auch unter dem Titel It´s Inevitable und mit dem Cover des einige Jahre zuvor erschienenen Albums Fantasy Girls. Bei meiner Bewertung von 94% schließe ich nicht aus, dass etwas davon auch mit dem persönlichen Bezug zu diesem Album zu tun hat, das die frühe Basis für meine AOR-Präferenz gelegt hat und die erste eigene Entdeckung aus diesem damals noch jungen Genre war.