HONEYMOON SUITE – Alive (Ein Album, zwei Meinungen)

Label
Frontiers
Erscheinungsdatum
16.02.2024
Tracklist
1. Alive
2. Find What You’re Looking For
3. Done Doin’ Me
4. Not Afraid To Fall
5. Tell Me What You Want
6. Give It All
7. Love Comes
8. Broken
9. Livin’ Out Loud
10. Doesn’t Feel That Way
Line-Up
Johnnie Dee - lead vocals
Derry Greham - guitars / keyboards / backing vocals
Dave Betts - drums
Gary Lalonde - bass
Peter Nunn - keyboards
Ein Album, zwei Meinungen!
Rainer
65
Ulle
78
72

Rainer:

Kein AOR/Melodicrock-Fan wird bestreiten, dass HONEYMOON SUITE Kult sind. Drei hervorragende Alben in den 80ern sorgten nicht nur im Heimatland Kanada für Aufsehen. Auch in den Staaten und Europa verzeichnete man einige (Chart-)Erfolge, welche leider nach dem vierten, etwas härteren, aber nicht minder schwächeren Monsters Under The Bed ein abruptes Ende fanden.

Die musikalische Zeitenwende sorgte Anfang der 90er Jahre dafür, dass HONEYMOON SUITE von heute auf morgen an kommerzieller Bedeutung verlor. Zwar wurde die Band nie offiziell aufgelöst, jedoch hielt man sich nach dem Weggang der Rhythmus-Sektion 1991 eher im Untergrund über Wasser. 2001 folgte mit Lemon Tongue (für den europäischen Markt 2002 als Dreamland veröffentlicht) eine Scheibe, welche leider mit dem klassischen Bandsound nichts mehr zu tun hatte. 2008 ging die Formkurve mit Clifton Hill wieder nach oben, ohne aber an den ersten vier Klassikern ernsthaft kratzen zu können.

Nun aber kehren HONEYMOON SUITE in Originalbesetzung – inklusive Dave Betts am Schlagzeug und Gary Lalonde am Bass – mit dem vielversprechenden Albumtitel Alive zurück. Die Vorab-Videoauskopplung des Titelsongs ließ mich etwas ratlos zurück. Aufgrund von Johnnie Dees Gesang kann man die Nummer durchaus sofort HONEYMOON SUITE zuordnen, leider war mir das ganze irgendwie zu kraftlos und uninspiriert, was meinen Erwartungen an das Album einen ziemlichen Dämpfer verpasst hat.

Und um es gleich vorwegzunehmen, der neue Dreher ist für mich – und es tut mir in der Seele weh, das zu schreiben – eine ziemliche Enttäuschung. Das Merkwürdige daran ist, dass es nicht mal die Songs an sich sind, welche für Ernüchterung sorgen. Es ist die unerträglich auf modern getrimmte Produktion, die das Album für mich beinahe unanhörbar macht. Generell habe ich mit modernen Melodicrock wie ihn beispielsweise DEGREED oder CREYE spielen überhaupt kein Problem, aber zu HONEYMOON SUITE passt das Ergebnis leider überhaupt nicht. ‚Not Afraid To Fall‘, ‚Love Comes‘ oder ‚Broken‘ wären mit einer reduzierten knackigen Produktion klasse Songs, aber die käsigen Keyboardspielereien und modernen Drumbeats rauben mir den letzten Nerv.

So bleibt mit dem vergleichsweisen harten Rocker ‚Done Doin Me‘, dessen Refrain auch aus der Feder von Jack Ponti sein könnte, genau 1 Song, der auf meinem Februar Best-Of-Mixtape landet.

Welche Punktzahl soll man hier geben? Die Songs haben womöglich mindestens 75% verdient, aufgrund der grausigen oben genannten Begleitumstände ist das Album subjektiv mit 65% gut bedient. Sowas von schade. Im August 2025 kann man sich im Rahmen des Indoor Summer Festivals in Hamburg von den Livequalitäten der Kanadier überzeugen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die neuen Songs auf der Bühne um einiges überzeugender dargeboten werden.


Ulle:

HONEYMOON SUITE ist, was den kommerziellen Erfolg betrifft, im Vergleich zu einigen AOR-Zeitgenossen aus den Mittachtzigern eher eine Band aus der zweiten Reihe. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen anderen Bands aus Kanada, die meistens deutlich bodenständiger daherkamen als ihre meist quietschbunten und filigran toupierten amerikanischen Kollegen. Mit dem von Bruce Fairbairn produzierten 1985er–Album The Big Prize und darauf enthaltenen Hits wie `Bad Attitude´ und vor allem `Feel It Again´ ist ihnen ein absoluter persönlicher Genre-Klassiker gelungen, während bei den AOR-Bible-Kollegen das Debut und das Drittwerk Racing After Midnight sogar noch höher im Kurs stehen. Folgerichtig schafften es diese drei Alben auch auf die Plätze 102 (The Big Prize), 77 (das Debut) und 21 (Racing After Midnight) unseres Rankings der 250 besten AOR–Alben aller Zeiten – ein untrüglicher Beleg für den hohen Stellenwert, den die Band nicht nur innerhalb der Redaktion eures Lieblingswebmagazins genießt.

Inzwischen sind rund 40 Jahre vergangen. HONEYMOON SUITE sind noch immer aktiv und haben mit Alive nun ein neues Album am Start, das bei den werten Kollegen jedoch mit deutlich gemischteren Gefühlen aufgenommen wurde. Leider – das schon einmal vorab – kann ich Rainers Kritik an der suboptimalen Produktion durchaus nachvollziehen: da wäre zumindest soundtechnisch sicher mehr drin gewesen als das undifferenzierte Etwas, das da aus meinem Kopfhörer schallt. Meine Ohren haben zuletzt allerdings schon deutlich schlimmere Klangverbrechen vernommen, sodass der insgesamt positive Eindruck, den ich als Fazit zu Alive ziehen kann, für mich nicht in gleichem Maße getrübt wird.

Gute-Laune-Rocker wie der Titelsong und Opener `Alive´, `Find What You´re Looking For´, `Not Afraid To Fall´ und `Broken´ oder auch die tollen Balladen `Don´t Feel That Way´ und vor allem `Love Comes´ sind einfach zu gut gelungen und mit zu schönen Widerhaken-Melodien gesegnet, als dass ich mich nicht zu häufigerem Hören eingeladen fühlen würde. Instrumental wird die gewohnte Klasse geboten, und auch der nach wie vor schnörkellose Gesang erhält meine Sympathien für HONEYMOON SUITE.

Mein größter Kritikpunkt ist eher die Kürze der Songs und die des gesamten Albums, denn von den zehn Songs überschreiten gerade einmal die Hälfte den drei-Minuten-Schlagerstandard. Keine Ahnung, ob die die Band hier den schnelllebigen Hörgewohnheiten der Neuzeit Tribut zollt oder einfach keine Zeit für ausgefeiltere Arrangements hatte – ein jähes Ende gerade dann, wenn man die wirklich schönen Melodien noch einmal auskosten möchte, ist für mich nicht die in der Kürze liegende Würze, sondern ein Hörgenuss Interruptus. Einerseits schade, andererseits aber auch ein Kompliment für die Songs, denen jeder eine Chance geben sollte, der auf die eingängigeren Nummern der letzten VEGA-Alben steht. Meinereiner vergibt unterm Strich nicht restlos begeisterte, aber zufriedene 78%.