168. TOMMY SHAW – Ambition

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92

Platz
168
Punkte
359
Tracklist
1. No Such Thing - 3:58
2. Dangerous Game - 4:53
3. The Weight of the World - 4:56
4. Ambition - 4:26
5. Ever Since the World Began (Frankie Sullivan, Jim Peterik) - 4:08
6. Are You Ready for Me - 4:18
7. Somewhere in the Night - 4:40
8. Love You Too Much - 4:03
9. The Outsider - 4:54
10. Lay Them Down (Shaw) - 4:15
Line-Up
Tommy Shaw vocals, guitar
Steve Alexander drums, percussion
Tony Beard drums
Felix Krish bass
Richie Cannata saxophone
Chris O'Shaughnessy guitar
Terry Thomas guitar, keyboards
Peter Vetesse keyboards
Paul Wix Wickens keyboards
Shirley Lewis backing vocals
Dee Lewis backing vocals
Helena Springs backing vocals
Lee Hart backing vocals
Unsere Wertung
92
Die 1980er stellten für Rockacts, die sich bereits in vorherigen Jahrzehnten etablieren konnten, kommerziell in der Regel weniger einen Einschnitt dar als es beispielsweise die 90er tun sollten. Klar, Vorwürfe alter Fans, dass der Sound zeitgeistgeschuldet zunehmend glatter und keyboardlastiger wurde, gab es schon damals. Doch es gab eine Kontinuität – so folgte New Wave auf Punk, auf Glam Rock der Hairmetal, und Heavy Metal setzte dem Heavy Blues noch einen drauf. Und Legacy-Lendenrocker wie Paul Stanley von KISS mögen heute vielleicht lieber über andere Karrierephasen sprechen, als die, in der Männer die stramm auf die 40 zumarschierten mit Kapitänsmütze und Glitzerfummel auf MTV mit dem Arsch wackelten (Zeitdokument: ‚Uh! All Night‘) – doch ungeachtet dessen erfuhr genau diese alte Garde auch in diesen Zeiten Respekt und verkaufte anständig Platten und Tickets. Jemand wie David Coverdale sogar mehr denn je. Den Hochkulturerben von WARRANT, VIXEN und WHITE LION erging es da in den 90ern bedeutend schlechter, und ein Einstellen auf den aktuellen Zeitgeist kam oftmals einem radikalen Bruch mit einstigen Markenzeichen gleich.

Erheblich glücklicher fiel da TOMMY SHAWs Rekalibrierung als Solokünstler aus. Zuvor Gitarrist und ab-und-an-Sänger der 70s-Soft-Progger STYX, war Shaw mit diesen zuletzt erfolgsverwöhnt im Konzeptalbum-Pomp unterwegs gewesen. Mr. Roboto‘ war ein Hit, Rock & Roll-Tommy mit der aufgeblasenen Ausrichtung trotzdem unglücklich; ganz anders der zweite Bandkopf Dennis DeYoung. Die Folge: Krach, zack, Bandauflösung und von Shaw ein neongrelles Soloalbum mit klarer New Wave-Schlagseite, ohne Konzeptkorsett und mit direkterer Ausrichtung. Aber auch: Mit weniger verkauften Einheiten, trotz Verwendung von ‚Girls With Guns‘ bei Miami Vice. Das Nachfolgealbum, What If?, geriet wieder etwas theatralischer (man denke an einen gemäßigteren Jim Steinman), und der längste Song ging schon wieder über 6 Minuten. Trotzdem: So richtig klickte das weder künstlerisch noch kommerziell (trotz erneuter Soundtrack-Platzierung; diesmal: der Titeltrack im Film “Remo – Unbewaffnet und gefährlich”).

Album Nummer drei, Ambition, sollte es also richten. Helfen sollten ein Major-Label im Rücken (Atlantic), eine frisch toupierte Mähne im Nacken (Aquanet), und mit Terry Thomas wieder ein zweiter Kreativpartner an Bord. Letzterer war nämlich nicht nur für die Produktion zuständig, sondern bei 9 der 10 Stücken auch ins Songwriting involviert. Und Album Nummer drei, Ambition, richtete es dann auch: Es löste die Versprechen, die Shaws bisherige Solo-Veröffentlichungen machten, aber nicht halten konnten, ein – zumindest kreativ. Und damals wie heute verbindet es den ernsthafteren Vibe von Soloalbum #2 mit der Lockerheit von Soloalbum #1 – sprich, hier wirkt das Spaßige weder banal noch das Ernsthafte bemüht. Ungeachtet vom Gated Reverb auf jedem programmierten Snare-Schlag, den Keyboards, dem Hall auf sowieso allem, und “Baby, ich bin ein wilder Rock & Roller, ich bin wild und frei”-Textexkursen: Das wirkt glaubhaft. Denn unter der kokainverstaubten Oberfläche ragen erkennbar melancholische Zacken hervor, die nicht künstlich platziert scheinen, sondern schlicht Teil des Ganzen sind. Und diese Mischung, bei der kein Element aufgesetzt wirkt, macht das Album so gut. Ja, hier liegt ein Hochglanzprodukt vor, aber kein zynisches oder abgeschmacktes. Die von Shaw intonierten Silben und gespielten Licks erzeugen emotional nachhaltige Resonanz -nicht bloß stumpfes Grinsen.

Wie klingt die Scheibe nun? Shaw bediente sich erneut freudig bei den neuen Farbtöpfen der laufenden Dekade, tunkte jedoch weniger in den New Wave-Eimer, als dass er Hairmetal-Stilmittel nutzte, um ein weitestgehend geerdetes AOR-Album zu machen, auf dem auch für die Atmosphäre zentrale programmierte Rhythmen ihren Beitrag leisten. Sprich: Im Rahmen der Genregrenzen klingt es sehr vielseitig, verhebt sich aber nicht, sondern bleibt ein um Shaws Stärken gestricktes Rock-Album. Die straighteren Nummern bieten in einen Resthauch von Blues getränkte Gitarren. Davon profitiert der Opener ‚No Such Thing‘. Der ist etwas rauer, angesichts dessen, was noch folgen soll regelrecht trügerisch testosteronlastig – und der einzige Track, der für mich erklärt, warum einige Reviews auf dem Album Bad Company zu hören vermögen. Im Anschluss ist ‚Dangerous Game‘ hingegen ein astreiner Keyboard-Ohrenschmeichler mit sattem Männerchor-Refrain, der folgerichtig auch in bester Desmond Child-Manier moduliert. Doch Tracks wie ‚The Weight of the World‘ bauen wiederum langsam Atmosphäre auf, um sie dann in präzisen Ohrwurmparts zu entladen. Und das sind nur die ersten drei Songs, die trotz der Abwechslung einen echten Albumfluss bieten.

Insgesamt wird das Album in seinem Verlauf immer düsterer. Der Protagonist von ‚The Outsider‘ ist – anders als die von haarmetallischen Balz-Acts thematisierten wie verkörperten verwegenen Gewinnertyp-Versionen von Außenseitern – tatsächlich in undankbaren Situationen unterwegs. Das geht nicht nur über die alte Rock & Roll-Räuberpistole hinaus, sondern bietet halt auch wirklich Storytelling. Shaw ist inhaltlich nun kein Springsteen, ihm sprachlich dabei aber bedeutend näher als einem Sammy Hagar, David Coverdale oder Stephen Pearcy. Und das steht der Atmosphäre hervorragend. Gebettet liegt die Loser-Lyrik nämlich auf einem edlen Flickenteppich, der seinerseits Hooks und Schlenker mustergültig verwebt. Die Keyboards und die Gitarren fahren das volle Programm auf; unterhalten, ohne dass jedes Loch zugekleistert wird und der Sound nicht mehr atmen könnte. Und als felsenfestes Fundament unter all dem liegen die erwähnten, zwar programmierten, aber mustergütig arrangierten und inszenierten Rhythmusspuren, sprich Schlagzeug und Bass. Die Spielfreude und Dynamik-Arbeit sind mustergültig, die einzelnen Parts und Instrumente spielen sich die Bälle vollkommen uneigennützig zu, und sämtliche Songs gehen nach vorne, wo sie müssen, und lassen leise Zwischentöne zu, wo die Kompositionen wiederum das erfordern. Es macht einfach Spaß, hier zuzuhören und in die Songs einzutauchen.

Shaws Gitarrenspiel sollte trotz der Mannschaftsleistung nicht unerwähnt bleiben. Denn das Album nimmt die große Geste stellenweise zwar ein, bleibt dabei aber selbst mit voll aufgedrehter Nebelmaschine immer geschmackvoll und stilsicher. Die Leads leisten einen essenziellen Beitrag dazu, dass dies so gut gelingt und ergänzen das Songwriting so hervorragend, dass sie als Teil davon zu werten sind. Der Rausschmeißer ‚Lay Them Down‘ (der einzige ohne Terry Thomas verfasste Song und ein Highlight des Albums), illustriert dies am besten: Er wird eröffnet von einem Gitarrenpart, der dermaßen breitbeinig ist, dass es an einen Spagat grenzt. Aber die Hose reißt eben nicht; es klingt nicht nach einer Karikatur, sondern passt zum (alles andere als breitbeinigen) Song. Und alleine wie der Bass in den Strophen pulsiert und Shaw darüber seine Textzeilen legt, ist phänomenal und auch soundtechnisch wirklich makellos. Das eine ist die Actionszene, das andere sind die Dialoge. Beides gehört zu dem Film, der im Kopfkino läuft. Und der ist ein Blockbuster: Ein Mutt Lange hätte so eine Nummer eventuell anders, aber nicht besser inszenieren können.

Viel Licht – gibt es auch Schatten? Nun, das SURVIVOR-Cover ‚Ever Since The World Began‘ ist um Welten biederer und banaler als der Rest des Albums. Richtig schlecht ist der Song für sich genommen nicht, stört den Fluss jedoch. Ebenso ist der Opener irreführend konventionell, auch stehen die Funk-Sprenksel von ‚Love You Too Much‘ (Spätachtziger-Stones lassen grüßen) stilistisch alleine. Der hohe Energie-Pegel und die gebotene Abwechslung lassen das jedoch verschmerzen; diese zwei Songs machen großen Spaß. Sie sind aber in puncto Flair weniger einzigartig als die verbleibenden Stücke. Denn wenn dieses Review hier bislang mit blumigen Vergleichen und höchsten Tönen um sich wirft, jedoch eher wenige Band-Referenzen nennt, dann liegt hierin genau die Stärke des Albums: Es gibt wenig bis nichts Vergleichbares. SURVIVORS Too Hot Too Sleep (das Album) gekreuzt mit ‚Broken Wings‘ von MR. MISTER ist noch am ehesten, wie man es beschreiben könnte. Andere denkbare Kreuzzüchtungspaten wären JOURNEYS Raised on Radio (das Album), eventuell auch das Debut von BAD ENGLISH, jedoch gepaart mit den kernigeren, prominenten Rhythmen von BILLY IDOLS Rebel Yell (Song und Album). Aber so richtig das Gleiche ist es halt doch nie – anderen Kandidaten fehlt immer entweder das Kernige oder das Hochglanzpolierte; das Energetische oder das Melancholische. Gerade Letzteres sorgt auch dafür, dass hier nahezu nichts banal wirkt.

Auch Tommy Shaw und Terry Thomas konnten weder danach noch davor das Besondere und die Atmosphäre dieses Albums nochmals einfangen. Shaw selbst gönnte sich seitdem noch weitere Stilneuorientierungen; zuletzt hatte sein Solozeug eine Country-Schlagseite. Terry Thomas produzierte zwar durchaus weitere Alben mit ähnlichem Sound – aber nie mit einem dermaßen großartigen Songwriting, wodurch die Dialoge plumper und die Actionszenen langweiliger wurden. Der Umstand, dass man, durch das Album angefixt, die Suche nach klangtechnisch vergleichbaren Releases scheitern wird, stellt neben einer Minimalmenge weniger zwingenden Nummern bereits das größte Ärgernis am Album dar. Was Shaw und Thomas angeht, dürfte vermutlich auch der Umstand, dass der große Erfolg erneut ausblieb und das Album beizeiten „out of print“ ging, in diese Kategorie fallen.

Dennoch: Dieses Album – mag man danach auch nach mehr vom gleichen Schlag verlangen und es nicht finden können – existiert ja. Und es gab seitdem ja noch diverse glückliche Wendungen: Genau wie die beiden Erstlingswerke ist das gute Stück inzwischen auch wieder erhältlich (gewohnt wertig aufbereitet über RockCandy) und sogar auf Spotify. Was den verdienten Erfolg angeht – Shaw hat STYX inzwischen (ohne DeYoung) wieder. Doch mag sich seine Rente vermutlich auch eher daraus speisen als aus diesem Alleingang – was das Shaw’sche Schaffen angeht, geht für mich nichts über Ambition. Weder STYX noch seine anderen Solo-Alben, noch seine weiteren Projekte oder Songwriting-Arbeiten für Dritte. Ein Ausnahmealbum, und für mich in den Genre-Top 3.