Ulle:
WINGER waren nach dem selbstbetitelten Debutalbum (erschienen 1988) und dem Nachfolger In The Heart Of The Young (1990, beide Alben erreichten Platin in den USA) nicht nur Opfer der Grunge Welle, sondern auch von ständiger Häme von „Beavis and Butthead“, den Titelhelden der gleichnamigen Zeichentrick-Serie. Fans von WINGER waren demnach „Wuzzies“, also schlappe Säcke, obwohl ihr Sound deutlich erdiger und gehaltvoller war als der so mancher Hairmetal-Trittbrettfahrer, mit denen damals der Markt überflutet wurde.
Während die Comic-Nervensägen irgendwann verschwunden waren, existieren WINGER – wenn auch mit ein paar Unterbrechungen – bis heute, und jüngst ist ihr siebtes Album bei Frontiers erschienen, das passenderweise Seven getauft wurde. Das Gute vorweg: Kip Winger ist immer noch bestens bei Stimme und veredelt die 12 Songs des Albums mit angenehmem, leicht rauem Timbre. Auch die Instrumentalfraktion – allen voran Guitarhero Reb Beach – leistet tolle Arbeit. Die Produktion ist modern und klar, und die zwischen dreieinhalb und siebeneinhalb Minuten langen Songs sind durchweg abwechslungsreich arrangiert und enthalten viele Ideen, die einen manches Mal anerkennend die Augenbrauen anheben lassen.
Allerdings erzeugen sie auch ein ums andere manches Mal Stirnrunzeln, denn leider kommt kaum ein Song ohne eher sperrige Passagen aus. Paradebeispiel hierfür ist gleich der Opener `Proud Desperado´, der mit Gangshouts und vergleichsweise simplen Strophen beginnt, während der zweigeteilte Refrain mit eingängiger Melodie und tollen Chören Erlösung bietet, um während des Solos mit zerhackten Prog-Akkorden zu nerven. Ich muss allerdings zugeben, dass mir der Song nach mehreren Durchgängen deutlich besser gefällt als nach dem ersten Höreindruck, was danach schreit, auch dem Rest des Albums mindestens eine zweite und dritte Chance zu geben, auch wenn man kein Review dazu schreiben muss (sorry, Chefs: will :-P).
`Heavens Falling´ ist dagegen deutlich eingängiger und entspricht einem in Moll gehaltenem AOR-Song, der am Ende eine Minute lang ein cooles Riff zelebriert, das den Song auf über fünf Minuten hievt. Cool! `Tears Of Blood´ beginnt als schwermetallischer Stampfer in DIO-Manier und besticht wieder mit einem Refrain mit ordentlich Widerhaken und einem tollen Break zur Songmitte. Ebenfalls stark!
`Resurrect Me´ist dagegen ein Midtempo Riff-Rocker mit leicht tiefer gestimmten Klampfen und einem Refrain, in dem Frontman Kip dann doch einmal hohe Noten meistern muss, was ihm auch mit Bravour gelingt. Der Song tut nicht weh, bleibt aber auch nicht besonders hängen. `Voodoo Fire´ stampft und groovt sich anschließend durch teils schräge Akkorde, bevor mit `Broken Glass´ die dem Titel nach zu erwartende Herzschmerz-Ballade erklingt. Hier sind zum ersten Mal auch einige Klänge vom Keyboard im Vordergrund, wie es sich für eine Ballade eben gehört. Schööön!
`It´s Okay´ beginnt mit markanter Talkbox-Gitarre, ist insgesamt aber zu schräg und sperrig, um als das `Living On A Prayer´ im WINGER-Kosmos werden zu können. Der schöne, wieder zweigeteilte Refrain und die dort zu vernehmenden Chöre erinnern etwas an den Album-Opener. Bretthart wird es dann mit dem Song `Stick The Knife In And Twist´, mit dem die Band ordentlich Gas gibt. Auffällig sind die abwechselnd vom Sänger und vom Chor gesungenen, eingängigen Refrains und ebenfalls abwechselnd links und rechts zu hörenden Gitarrensoli, die in einem kurzen Twinguitar Solo enden. Cool!
`One Light To Burn´ nervt danach wieder mit schrägen Akkorden und den Fluss nehmenden, proggigem Drumming und geht leider ebenso völlig an mir vorbei wie Song Nummero zehn namens `Do Or Die´, auch wenn hier wieder mit mehr Gefühl und deutlich mehr Melodie gerockt wird. Auch `Time Bomb´ kann mich nicht vollends überzeugen, weil die zwingende Melodie fehlt und der Song etwas uninspiriert vor sich hin stampft.
Aber wie so oft kommt das Beste am Schluss: absolutes Album-Highlight ist für mich das epische, siebeneinhalb Minuten lange `It All Comes Back Around´, das mit verhaltenem, von einem schönen Piano getragenem Gesang beginnt, tolle Melodien enthält und ein grandioses, langes Gitarrensolo enthält, bei dem sich Reb Beach schier die Seele aus dem Leib fiedelt. Dieser Song hätte auch auf dem von mir außerordentlich geschätztem Album Colour Temple der Pfälzer VANDEN PLAS gepasst.
Ein würdiger Abschluss eines Albums, das einige Tiefen, aber auch einige Höhen enthält und somit insgesamt durchwachsen ausfällt, was sich in einer eher durchschnittlichen Benotung von 65% ausdrückt – mehr war für meine Hörgewohnheiten aufgrund zu häufiger sperriger Passagen in einigen Songs einfach nicht drin. Gleichwohl sollte jeder dem Album eine Chance geben und mal ein Ohr riskieren, dem auf happy getrimmte Li La Launebär-Songs auf Dauer zu cheesy und langweilig sind. WINGER machen einem den Zugang zu ihrem neuen Album Seven ungleich schwerer, lassen aber auch Raum für Entdeckungen, die sich erst nach mehrmaliger Rotation offenbaren – durchaus ein Qualitätsmerkmal, das Respekt verdient. (65%)
Tom:
Bereits seit dem Debüt Winger (1988) verfolge ich diese Band. Mit dem Zweitwerk In The Heart Of The Young (1990) gingen die Jungs durch die Decke. ‘Can´t Get Enough” fegte durch jede Rockdisco und mit ‘Miles Away’ beinhaltet das Album eine der größten Rock-Balladen aller Zeiten. So ganz nebenbei ist mit ‘Rainbow In The Rose’ auch mein bis dato Lieblingssong der Jungs um Kip Winger auf dem Album vertreten. So richtig verfallen bin ich der Band allerdings erst mit dem Drittwerk Pull (1993). Für mich, auch 30 Jahre später, immer noch die Referenz in Sachen WINGER – und das Album, das ich jedem als erstes empfehlen würde, wenn er die Musik von WINGER kennenlernen möchte.
Mit den eingetretenen Veränderungen im weltweiten Musikbusiness und im Musikgeschmack erwies sich Pull allerdings als kommerzieller Flop und eine langjährige Pause wurde erst mit Winger IV (2006) beendet. Es folgten mit Karma (2009) und Better Days Comin´ (2014) zwei Alben, die die Formation deutlich griffiger zeigen und mit hochkarätigen Songs überzeugen können.
Und nun – anno 2023 – fegen uns Winger ihren siebten Studio-Output Seven um die Ohren. Das vorab ausgekoppelte ‘Proud Desperado’ eröffnet das Album und sorgt gleich mal zu Beginn für erheblichen Gesprächsstoff. Zumindest innerhalb der Bible-Redaktion sind die Kommentare zum Song nicht immer positiv. So manchem stößt der gemeinsam mit Songwriter Ikone Desmond Child verfasste Song sauer auf. Mir gefällt er mit seinen cool arrangierten Gesangsparts und dem klebrigen Refrain von Anfang an. Im Kontext zu den anderen Songs auf Seven stellt sich der Desperado allerdings als Skip-Kandidat heraus.
Springen wir gleich zum Abschluss des Albums, denn ‘It All Comes Back To You’ ist ebenfalls vorab veröffentlicht und zeigt die Jungs in kompositorischer Höchstform. Über sechs Minuten lang erstreckt sich dieses Juwel eines Songs. Langsames, von Piano und ruhiger Stimme getragenes Intro, immer weiter aufbauend mündet es in einen unvergesslichen Chorus und zeigt zum Schluss in einem atemberaubenden Solo, warum Reb Beach als einer der gefragtesten Gitarristen unserer Zeit gilt. Nur wenige seiner Zunft können technische Raffinesse und Gefühl derart miteinander verbinden. Allein dieser Song ist die Anschaffung des Albums wert.
Dazwischen liegen 10 weitere Songs, die niemanden enttäuschen werden, der WINGER auch bisher zu seinen Favoriten zählt. Anders als bei Ulle überzeugen mich auch die etwas sperrigen Songs wie ‘One Light To Burn’ (was für ein Riffing in den Gitarren und was für Übergänge in den Gesangsarrangements – ganz zu schweigen vom Drumming!!). ‘Do Or Die’ ist sperrig, gar keine Frage – hat aber einen Refrain, der sich nachhaltig in den Gehörgängen festsetzt. Selbst das noch kompliziertere ‘Time Bomb’ hat sich mittlerweile auch dort fest eingenistet. Im Vergleich zu diesen „Herausforderungen“ fällt für mich das brettharte ‘Stick The Knife In And Twist’ etwas ab, da es zwar mächtig voranschiebt und ordentlich groovt, dadurch aber auch auf seine gut drei Minuten recht gleichförmig durchläuft.
Seven ist ein Album, das sich erst nach mehrfachem, intensivem Anhören erschließt und für den Melodic-Rock-Puristen ganz sicher nicht zu empfehlen! Wer Hardrock mag, der musikalisch von absoluten Könnern ihres Faches, perfekt eingespielt und produziert auf seinem musikalischen Speiseplan stehen hat, bekommt mit Seven die absolute Vollbedienung geliefert. Das Album läuft bei mir seit Tagen in Dauerschleife und wächst mit jedem Durchgang. (90%)